Mindestenssechszeichen...keine Panik!

WillnochXP

19. April 2011 von Yhoko
Neue Systeme sind nicht zwangsweise besser. Häufig funktionieren etablierte Lösungen, die über Jahre hinweg immer weiter ausgefeilt wurden, einfacher und zuverlässiger als völlig neue Ansätze. Microsoft stemmt sich komplett gegen diesen Trend.
Als ich das erste Mal an einem Computer sass, war dort Windows 3.11 installiert. Auch mein erster eigener Computer wurde noch hauptsächlich mit DOS betrieben und spielte Klassiker wie Syndicate Wars, Comanche und Might & Magic ab - doch bereits nach wenigen Monaten Eingewöhnungszeit erschien das sagenhafte, innovatige und so viel bessere Windows 95! Kein Sarkasmus übrigens; damals hatten wir uns darüber gefreut wie kleine Kinder.

Der Umstieg von DOS war nicht allzu schwer, aber einige Spiele machten dann doch Probleme oder wollten gar nicht laufen, weswegen häufig Neustarts in den DOS-Modus angesagt waren - aber Probleme mit Spielen war man im DOS ja ohnehin gewohnt, ich sage nur "HIGHMEM.SYS" und "EMM386.EXE". Mit der Zeit bildete sich Sammlung an Instruktionen, wie man welches Spiel zum Laufen bringt und das Leben war in Ordnung.

Dann kam Windows XP.

Mir sträubten sich die Nackenhaare. Quietschbunte, blaue Task- und Fensterleisten mit abgerundeten Ecken. Ein riesiges Startmenü mit Bild. Merkwürdige Gruppierungen in der Systemsteuerung, im Arbeitsplatz und - was zur Hölle - in der Taskleiste! Ballon-Popups von allen Seiten. Ein Suchfenster mit einem Köter (ehrlich, ich liebe Hunde, aber diese braune Wurst mit Augen könnt ich erwürgen). Maus- und Menüschatten, Ausblendeffekte wo man nur hinsieht und tolle neue Wizards (Assistenten), die jeden Arbeitsschritt am System ganz toll in die Länge ziehen. Hätten die auch noch Karl Klammer gezeigt, ich wäre sofort bekehrter Linux-Jünger gewesen oder notfalls sogar zu Apple ausgewichen.

Kurzum: Die Ablehnung gegenüber diesem Kaugummiautomaten-Betriebssystem war gross. Zu dem Zeitpunkt war Windows 98 aktuell (was ja im Grunde immer noch Windows 95 war, daher gabs da auch keinen Umstieg) und das ging auch noch einige Jahre so weiter. Zum Schluss wieder mit zwei installierten Betriebsystemen, so dass man notfalls (also für die ganz neuen) Spiele mit einem Neustart wechseln konnte.

Mit der Zeit lief immer seltener Windows 98, vor allem auch, weil immer mehr Spiele nun auch (bzw. ausschliesslich) unter XP funktionierten und immer mehr Software für das neue System entwickelt wurde. Es sammelten sich Tools und Tricks, wie man (meist per "regedit" oder "gpedit") das XP richtig erzieht, alle leistungshungrigen Effekte und unnötigen Wartezeiten ausschaltet, Sicherheitslecks schliesst und auch sonst alles nach eigenen Wünschen (also im Windows 98 Stil) konfiguriert. Es dauerte ein paar Jahre, aber letztendlich war Windows XP mein allerbester Freund - und ist es noch heute.

Erinnert sich eigentlich noch jemand an Windows ME? Kurz zusammengefasst handelte es sich dabei um ein ver(schlimm)bessertes Windows 98, seinerzeit Microsofts grösster Flop und es wurde von niemandem wirklich ernst genommen. Exakt dieselbe Situation ergab sich lustigerweise noch einmal und zwar mit Windows Vista - dabei handelte es sich diesmal um ein weiter verschandeltes XP. Die angehende Sicherheits-Paranoia schob man auf den Benutzer und bemühte sich, mit Effekthascherei die dringend nötigen Punkte zu erzielen - wie schon damals wieder auf Kosten der Grösse, Leistung und Reaktionszeit (aber schliesslich müssen die Hardware-Hersteller ja auch irgendwie ihre neuen Festplatten und Prozessoren an den Ottonormalverbraucher bringen). Aus meiner Sicht ist der einzige Vorteil von Vista gegenüber XP, dass es auch in 64 Bit erhältlich ist (bzw. nutzbar; XP ist nur ersters) und Prozessorgruppen unterstützt - was ich jetzt noch nicht so sehr vermisse. Auf jeden Fall floppte Vista und auch Microsoft gab das offen zu.

Eifrig wie sie sind, und um nicht komplett den Anschluss zu verlieren, steckten die Jungs aus Redmond daraufhin viel Zeit in Windows 7 und hielten damit ihre innovativen Versprechen (WinFS) zwar wieder nicht, besserten aber das System so weit auf, dass man Windows wieder ernst nehmen konnte.
Schade, denn deswegen steht ich nun wieder vor der selben Situation wie damals mit Windows XP. Noch geht es, denn nur die wenigstens Spiele und Programme laufen ausschliesslich auf Windows 7, aber in den nächsten Jahren wird mich der Markt wohl zwingen, parallel ein Windows 7 laufen zu lassen - und wer weiss, vielleicht werden wir dabei genauso dicke Freunde wie ich damals mit XP.

Andererseits hat sich die Ausgangssituation aber auch drastisch geändert; heutzutage ist ein virtuelles Betriebssystem schnell eingerichtet und lässt sich ohne Neustart booten, als wäre es nur ein weiteres Programm; Netzwerkdienste fangen damit an, Spiele direkt aus ihren Serverclustern sogar auf Internet-Fernseher zu streamen und die Grafikleistung einiger guter Titel ist so sehr an die Konsolen angepasst, dass man dafür nicht mehr gleich eine neue Grafikkarte benötigt. Aber wir wollen nicht nur von Spielen reden; auch andere Softwareschmieden versuchen zunehmend, ihre Produkte vom Computer des Endkunden weg in den Browser zu verschieben und sie damit quasi auch zu streamen - Abos bringen schliesslich nachhaltigere Einkünfte und die Software-Piraten werden damit auch gleich ausmanövriert (zumindest in der Theorie). Bis das alles so reibungslos klappt, wird aber noch viel Zeit vergehen. Dasselbe gilt leider für die Projekte, die sich damit beschäftigen, Windows-Spiele unter Linux laufen zu lassen.

Das Wettrennen um die Zukunft bleibt also spannend. Meine Ablehnung gegenüber Windows 7 wird sich so schnell nicht legen und mit etwas Glück werden rechtzeitig Alternativen zur Stelle sein, so dass ein Umstieg gar nicht nötig werden wird. Meine bevorzugte Lösung wäre, zu gegebener Zeit von Windows XP auf Linux zu wechseln - Ubuntu hat sich hierbei als vielversprechender Kandidat erwiesen. Bis dahin jedoch hege und pflege ich mein Windows und bin stolz, dass der Computer vom BIOS-Piepser bis zum offenen Word genau 9 Sekunden benötigt. Wie lange braucht Windows 7 mit aktuellem Office dafür?

Nachtrag: Meine Güte, die Zukunft sieht düster aus. Mit Windows 8 hat Microsoft den Vogel abgeschossen; wie kann man nur das Startmenü durch ein Vollbild-Fenster mit Kacheln ersetzen? Designtechnisch sind wir in den 80ern gelandet; selbst die Fensterrahmen sind verschwunden. Weiterhin starten die Programme mal im Desktop- und mal im Kachelmodus, und wieso muss der Taschenrechner (als App) im Vollbild mit riesigen Buttons laufen? Wollen sie die Mauswege künstlich verlängern, damit man den Unterarm besser trainiert? Es ist ein einziges Chaos und es ist nicht gut.

Nachtrag 2: Selbst Microsoft musste den erneuten Griff ins Klo gestehen und brachte mit Windows 8.1 zumindest den Desktop als Standard und ein klitzekleines Startmenü zurück. Damit aber nicht genug steht bereits Windows 10 (die 9 wurde aus technischen Gründen übersprungen... die Firma ist einfach nur peinlich) in den Startlöchern und bringt ein grosses Startmenü zurück. Mit Kacheln darin. Quasi Fortschritt durch Rückschritt. Applaus.

Kommentar

ToSensei / 19.04.2011
WinXP gibts btw. auch in einer 64Bit-Version. Ist nur sehr schwer zu kriegen und hat ziemliche Treiberschwierigkeiten etc. etc.
Und meine beiden einzigen Probleme mit Windows 7:
1. Braucht man für nen halbwegs reibungsfreien Betrieb mindestens 50GB allein für die Systempartition. Und das, wo es prinzipiell nicht viel mehr kann als Win2k, was nur 200MB braucht.
2. Wie bisher _jedes_ Windows, das ich hatte, zerschießt es sich mit der Zeit von selbst. Mal bei ner Programminstallation, mal beim Neustarten, oder wie grade bei Win7 beim Installieren des SP1.

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