Tilde.oder: der Fuchs auf der Rückbank

Die Tragödie des Seins.

1. April 2021 von Varon
oder: der Fuchs auf der Rückbank.
„Du suchst den Neger, ich such den Sinn des Lebens und wir beide treffen uns dann wieder in zehn Minuten hier“, sagte Viktor zu mir und ließ mich an Gleis 12 stehen. Neger, das sagt man doch heute nicht mehr, dachte ich noch entsetzt, als sein breiter Rücken rasch zwischen diversen Tunten mit grellen Perücken verschwand.
„Ich hab’ keine Ahnung, was er meint“, sagte ich zu einer Frau in Neongelb. „Das könnte an dem vielen Vodka liegen, den er getrunken hat.“ Verständnislos sah sie mich an und nahm auffällig Abstand zu mir.

Wie bin ich eigentlich im Bahnhof gelandet?
Zeit für Retrospektive.

Ich erwachte vor Tagen als ein Zombie in einer Welt voller Sklaven, die ihre eigenen Gräber aushoben. Auf einer Wiese fern dem Irgendwo. Es fiel Regen.
Ein Cadillac hielt neben mir. Am Steuer saß ein gewaltiger Mann, auf dem Beifahrersitz ein Hut tragender Fuchs.
„Steig ein“, sagte er zu mir.
„Wo fahren wir hin?“, wollte ich wissen, mühsam das Zombieeske abschüttelnd.
„Woandershin“, sagte der Fuchs.
„Wir suchen den Sinn des Lebens“, sagte der Mann.
„Och nö“, meinte ich und nahm auf dem Rücksitz Platz.

Wir fuhren durch die Stadt der Ruinen. Vorbei an Narrenschiffen, die vor Anker lagen, alte Häfen aus alten Zeiten. Ich erinnere mich an viele Kiefern. An einer erbärmlichen Raststätte hielten wir Nachts. Viktor klappte den Fahrersitz zurück um zu pennen und zu schnarchen, Fuchs und ich gingen in die Kneipe.

„Es mag meinem ADS geschuldet sein, aber ich glaube, so einen schäbigen Ort habe ich noch nie zuvor gesehen“, sagte ich und als ich es anblickte, fiel das Schild herunter. „UndankBar“ stand drauf. Irgendwann war es wohl einmal Neongelb beleuchtet gewesen.
Fuchs und ich setzten uns an einen der vielen, äußerst leeren Tische. Wir warfen einen Blick auf die Speisekarte, die Preise waren skurril, vermutlich erhoffte man sich bei 2 Euro 43 einfach ein bisschen Trinkgeld. Der Barmann kam an unseren Tisch. Auf seinem Gesicht stand geschrieben, dass er den Weltrekord für ausdauernd schlechte Laune hielt.
„Haben Sie eine Süßspeise?“, fragte ich.
„Was?!“, blaffte er, „Süßspeise? Kannst ’nen Saft haben.“ - „Ah okay, dann einen Orangensaft bitte.“ - „Jut. Macht Drei Fuffzig.“ - „Aber auf der Karte steht 2,43 ...“ - „Hör’n Se mal, ich komm doch auch nicht zu Ihnen nach Hause und zeig Ihnen, wo ihre Couch steht!“
„Das ist eine schlechte Bar...“, murmelte ich. „Sagen Se mal, haben Se nicht das Schild gelesen, als Se reinkamen?“, rief der Barmann. Er trabte ab.

„Hey guck mal, was hier liegt“, sagte der Fuchs und hielt ein Tagebuch und ein leeres Schnapsglas hoch. Beides musste auf dem Stuhl neben ihm gelegen haben. Interessiert las ich den ersten Eintrag:
„Liebes Tagebuch.
Ich wurde heute schon wieder verarscht. Scheiß Getränk.
- Dein Christian“
Es war außerdem der letzte Eintrag.

Später erlebten wir noch einen Sonnenaufgang an der Küste. Zwischen den Dünen und den Lügen unserer Väter sprangen silberne Hasen auf der Suche nach Spiegeln und dem einzigen Land, das sie kannten.
„Silberne Hasen. Das ist doch nicht die Wirklichkeit“, sagte ich zum kiffenden Fuchs. Die Ironie wurde mir erst später bewusst. Fuchs war beschäftigt, drehte einen Joint, wie man mit diesen Pfötchen einen Joint drehen konnte, fragte ich mich noch.
„Wirklichkeit“, begann er und leckte über die Klebefalte, „Wirklichkeit ist alles, was erlebbar ist.“

Als Viktor erwachte, fuhren wir weiter. Küsten entlang und auch Berge, kamen durch Orte. Als wir Grenze um Grenze passierte, fiel mir auf, dass der Unterschied fehlte.
„Die örtlichen Kulturen sterben. Traditionen sterben. Aber schau an, wie sie’s immer noch versuchen“, sagte Viktor und nickte aus dem Fenster. Ich schaute zu drei Männern in festlicher Kleidung. Sie saßen auf einer Parkbank und tranken Bier aus Dosen.
„Das ist dann wohl die Tragödie des Seins“, stellte ich fest. Hinter mir lachte der kiffende Fuchs bellend.
„Das Sein ist eine Komödie“, sagte er, „und nur, wer sich ändert, bleibt in ihr bestehen.“

Die Orte wurden uns fremd.
Eine Zeit lang lebten wir deshalb bei den Vagabunden. Aber als die Luft erkaltete und die Bäume erblassten, reisten wir weiter. An einer Kreuzung des Lebens nahmen wir einen Anhalter mit. Er schien mir aus Obsidian gemeißelt. Ich saß mit ihm zusammen auf dem Rücksitz. Viktor fuhr uns durch die Länder, der kiffende Fuchs saß auf dem Beifahrersitz, er hatte das Fenster herunter gelassen, Fuchs mochte es, die Nase in den Wind zu halten.
Einmal ist ihm der Hut vom Kopf geflogen.
Sofort trat Viktor auf die Bremsen.
„Es ist doch nur ein Hut“, sagte Fuchs.
„Es ist nicht nur ein Hut“, erwiderte ich grantig und klopfte den Staub der Straße ab.
„Er lag hinter uns. Er war Vergangenheit. Warum musst du immer die Vergangenheit einsammeln und zurückbringen?“ Ich setzte Fuchs den Hut auf den Kopf.
„Weil ich manchmal wissen muss, woher ich komme“, sagte ich.

Der Mann aus Obsidian sprach nicht. Er hatte uns nur erklärt, dass er zur Stadt der vielen Häfen und Fische wollte. Zumindest hatten wir jetzt ein Ziel.
„Ziele sind wichtig“, hatte Viktor da gesagt.
„Quatsch“, entgegnete der Fuchs, „Ziele sind Blödsinn.“
„Aber was ist denn ein Leben ohne Ziele?“, fragte ich verwirrt.
„Ein freies Leben“, flüsterte Fuchs.
„Suchst du deshalb nach dem Sinn des Lebens?“ Diese Frage wollte ich Viktor schon die ganze Zeit über stellen. Es schien mir nun der rechte Zeitpunkt.
„Ja“, sagte Viktor knapp und fügte dann begeistert hinzu: „Einmal hatte ich ihn schon fast. Aber dann ist er mir wieder entwischt, zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen.“

Schließlich kam das Meer. Vielleicht war es auch nur ein sehr großer See, wer kann das schon so genau sagen. Am Straßenrand stand eine nackte Frau. Ihre Haare waren ähnlich wirr wie ihr Blick. Sie hielt ein Schild hoch: „Das Ende ist nah“, stand in großen, schwarzen Buchstaben darauf geschrieben.
„Ich glaube, das hier ist unsere Ausfahrt“, sagte ich und Viktor bog ab.

Die Stadt türmte sich vor uns auf wie ein dickes, altes und sehr unfreundliches Tier. Am Bahnhof stieg Obsidianmann aus. Bevor er ging, sagte er zu mir: „Zähme niemals deine Dämonen.“ Schnell drehte sich Fuchs zu mir um und flüsterte hinter vorgehaltener Pfote: „Aber sieh zu, dass du immer ’ne Leine dabei hast.“

So kam ich also in die Stadt der vielen Häfen.
Und so landete ich im Bahnhof.
Viktor war fort, Obsidianmann auch und Fuchs wollte gar nicht erst aus dem Auto steigen.
Und jetzt bin auch ich verloren. Ungefunden.

Zum Glück hatte ich den Vagabunden einen Pfad aus Steinen hinterlassen – damit ich irgendwann den Weg zurück nach Hause finden konnte.

~

„Siehst du die Sonne?“
„Nein. Wie denn auch. Es ist Nacht.“
„Aber sie ist trotzdem da. So ist es mit allem. So ist es auch mit dem Glücklichsein.“
„Ich kann doch auch nichts dafür, wenn ich die Sonne nicht sehen kann. Wenn es nach mir ginge, würde ich jetzt auf der Spitze der Welt sitzen.“
„Aber es geht doch nach dir.“


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